Strom- & Blitzunfall

Jeder kennt die Geschichten über die Missgeschicke im Haushalt, daher wollen wir hier eine kleine Nachhilfe zur Handlungssicherheit bei Strom- und Blitzunfällen geben.

Präklinisch ist die Sache so einigermaßen klar: oberste Priorität hat die Eigensicherung! Bevor ich also den Patienten aus der Badewanne oder dem Gleisbett ziehe, muss ich erst einmal sichergehen, dass für mich selbst keine Gefahr besteht. Anschließend erfolgt die Erstversorgung nach dem cABCDE-Schema und sofern möglich die SAMPLE-Anamnese. Sobald der Patient dann aber in der Notaufnahme ist, tauchen immer wieder die gleichen Fragen auf: welchen Patienten muss ich denn nun aufnehmen und stationär überwachen? Welche Untersuchungen sind notwendig?

Vorab: die Analysen haben gezeigt, dass 24- oder 48-stündige Überwachungen meist ohne Auffälligkeiten und Konsequenzen blieben, in der Regel die Folgen also harmlos sind. Trotz dessen ist die Angst vor einem Stromunfall groß, jeder hat schon von tödlichem Ausgang, verzögertem Auftreten von Kammerflimmern, usw. gehört.

Zunächst einige Grundlagen: der resultierende Schaden durch einen Stromunfall ist abhängig von der Energie der schädigenden Einwirkung. Die Energie widerum hängt von folgenden Faktoren ab:

Stromstärke I, Maßeinheit Ampere A

Spannung U, Maßeinheit Volt V

Dauer der Einwirkung

Körperwiderstand

Kontaktfläche

Stromart und dem

„herzwirksamen Stromweg“


Dabei wird grundsätzlich zwischen 2 Verletzungsmechanismen unterschieden:

Durch einen depolarisierenden Effekt auf erregbare Zellen entstehen Folgen wie HRST, Muskelkontraktionen, zentrale Atemstörung und Krampfanfall.

Durch die Umwandlung elektrischer in thermische Energie gibt es Folgen wie Strommarken, Verbrennungen, Verkohlungen

Wichtig für das Procedere ist zu wissen, um was für eine Stromart es sich handelt, der Einfachheit halber erfolgt die Trennung bei 500V in

Niederspannung <500V und 

Hochspannung >500V

Blitzschläge stellen eine Sonderform dar


Der Körperwiderstand wird v.a. durch den Hautwiderstand bestimmt und variiert stark: man kann sich ja durchaus vorstellen, dass sich die Zunge an der Steckdose nicht so gut macht wie der dick verhornte Bauarbeiterfinger. Somit können feuchte Haut / Schleimhaut oder eine bestehende Verletzung den Hautwiderstand deutlich senken und damit Verletzungen wahrscheinlicher machen, v.a. auch die Wahrscheinlichkeit innerer Verletzungen!

Gerade bei Kindern ist an einen ungewöhnlichen Unfallhergang zu denken und daher die Inspektion des gesamten Körpers, v.a. der Finger, Hände, Mund einschließlich der Mundschleimhaut und auch der Zunge erforderlich! Strommarken entstehen durch lokale thermische Stromwirkung und können an Eintritt und Austritt vorkommen.

Warum der Wechselstrom (Haushalt) v.a. für das Herz gefährlicher ist als Gleichstrom erklärt sich durch folgendes Phänomen: bei Gleichstrom ändert sich die Richtung des Stroms nur beim Ein-/Ausschalten, daher ist die Gefahr von HRST niedriger, aufgrund der üblicherweise anliegenden deutlich höheren Spannung steht beim Gleichstrom die schädigende thermische Wirkung im Vordergrund (Verbrennungen und Nekrosen)

Für eine kardiale Stromwirkung ist eine Einwirkzeit von mehreren 100 ms erforderlich um die vulnerable Phase des Myokards auch sicher zu erwischen. Ist die Einwirkzeit sehr kurz (z.B. 1 ms bei Elektrozäunen oder der Zündspule im Auto) werden Spannungsspitzen bis 10.000 V vertragen. 

Daher können wir auch ohne schwerwiegende Folgen defibrillieren: die Einwirkzeit beträgt hier etwa 20msec.

Mögliche Folgen eines Haushaltsunfalls sind Herzrhythmusstörungen und EKG-Veränderungen (Dysrhythmien, Repolarisationsstörungen, AV-Block, Schenkelblock, QT-Zeit-Verlängerung), Sensibilitätsstörungen, Verbrennungen, Strommarken, Muskelschmerzen und CK-Erhöhung durch Muskelfaseruntergang.

Wie oben bereits erwähnt handelt es sich bei Hochspannungsleitungen üblicherweise um Gleichstrom mit namensgebender deutlich höherer Spannung, weshalb die thermische Schädigung im Vordergrund steht. Eine Besonderheit stellt das Stromnetz der Bahnleitungen dar: Dabei handelt es sich um einen Wechselstrom mit einer Netzfrequenz von 16,7 Hz und Spannungen bis 110 kV (in Deutschland).

Häufig übersehen werden V.a. bei Verbrennungen, die bei entsprechendem Ausmaß ja auch sehr beeindruckend aussehen leider auch immer wieder Begleitverletzungen: daher ist dem Unfallmechanismus eine besondere Beachtung zu schenken! (z.B. S-Bahn-Surfen, Lichtbogen bei Mutprobe auf Bahnwaggons mit folgendem Sturz aus mehreren Metern Höhe...)


Wie ist also vorzugehen:

Die Anamnese sollte neben der üblichen notfallmedizinischen Erhebung nach dem üblichen Schema gezielt auf folgende Aspekte eingehen:

• Netzspannung (Haushalts- oder Industrieunfall)

• Bewusstlosigkeit (als Hinweis für eine initial aufgetretene Herzrhythmusstörung)

• Unfallumstände (Nässe oder Wasserkontakt, Schleimhautkontakt, vorbestehende Hautverletzungen, Dauer des Kontakts zur Stromquelle etc.)


Die komplette körperliche Untersuchung mit Suche nach Strommarken inkl. Mundschleimhaut und Zunge ist unbedingt durchzuführen.

Beim internistischen Status sollte der Fokus auf der Herzauskultation (Dysrhythmien, Pulsdefizit) liegen.

Eine orientierende neurologische und muskuloskelettale Untersuchung ist ebenfalls durchzuführen und hierbei V.a. die Beurteilung des Bewusstseinszustands, der Kraft, Motorik und Sensibilität durchzuführen.

Eine druckschmerzhafte Muskulatur oder auch Thoraxschmerzen können auf eine abgelaufene Tetanie hindeuten.

Ein 12-Kanal-EKG mit langem Rhythmusstreifen sowie die Erhebungen von Puls, Blutdruck und Sauerstoffsättigung sind obligat.

Eine Blutentnahme hingegen muss nicht routinemäßig erfolgen, v.a. bei symptomfreien Patienten ohne Hinweis (anamnestisch oder palpatorisch) auf Muskelschmerzen. Wenn indiziert sind CK, Troponin I, Transaminasen, Serumkreatinin, LDH, Myoglobin und Serumelektrolyten sowie Urinteststreifens (U-Stix hinsichtlich Myoglobinurie) hilfreich und bei foldenden Faktoren abzunehmen:

initiale Bewusstlosigkeit

EKG-Auffälligkeiten jeglicher Art

ausgeprägte Verbrennungen

Hochspannungs- oder Blitzunfall

evtl. bei Schleimhautkontakt / Wasserkontakt.


Bei Hinweisen auf HRST (initiale Bewusstlosigkeit) ist eine 24-stündige Überwachung induziert. Ansonsten wird das 12-Kanal-EKG bei Aufnahme als ausreichend angesehen. In Einzelfallberichten über erst einen Tag später auftretendes Kammerflimmern konnte retrospektiv belegt werden, dass initial bestehende EKG-Veränderungen übersehen oder gar kein 12-Kanal-EKG angefertigt wurde.


Hinweise im 12-Kanal-EKG können sein: 

AV-Block

Schenkelblockbilder

Extrasystolen

Tachykardien

QT-Zeit-Verlängerungen

ST-Strecken- oder 

T-Wellen-Veränderungen

Ob diese ggf. vorbestehend sind, muss abgeklärt werden. 
Bei kardialen Erkrankungen empfiehlt sich im Zweifelsfall die großzügige Indikation einer stationären Überwachung (v.a. bei bek. Dysrhythmien)

Sollte eine EKG-Veränderung vorliegen, ist ein kontinuierliches EKG-Monitoring über 24 h indiziert - zudem bei folgenden Faktoren (ERC-Risikofaktoren)

• Bewusstlosigkeit in der Anamnese

• Herzstillstand

• ausgeprägte Weichteilverletzungen und Verbrennungen

• pathologisches EKG

• evtl. bei kardialen Vorerkrankungen

Über 24h fortbestehende EKG-Veränderungen sind kein zwingender Grund zur Verlängerung der Überwachung bei symptomfreien Patienten.


Weitere Indikationen für eine stationäre Monitorüberwachung können sein:

Strommarken (Hand-zu-Fuß, Hand zu-Hand, Kopf-zu-Fuß, Kopf-zu-Rumpf, Kopf-zu-Hand)

Tetanische Kontraktionen

Relevante Verbrennungen

Gefäßverschlüsse, Thrombosen

Paresen, Parästhesien

Glasgow-Coma-Scale < 15

Kurzzeitige Bewusstlosigkeit

Retrograde oder anterograde Amnesie

Starke Kopfschmerzen

Sehstörungen, Hörstörungen

Konzentrationsstörungen

Übelkeit, Erbrechen, Schwindel

Angstgefühle

Brustschmerz, Bauchschmerz

Herzstiche, Herzdruck, -klopfen, -jagen

Pathologische Laborwerte

Schwangerschaft


Einen Sonderfall stellt der Stromunfall bei einer Schwangeren dar: das Kind schwimmt in der Strom leitenden Amnionflüssigkeit und ist daher besonders gefährdet. Hier sollte auch bei fehlenden Beschwerden eine Überwachung von Mutter und ungeborenem Kind erfolgen.

Bei Auftreten von Rhabdomyolyse mit Myoglobinurie wird eine forcierte Diurese und Urinalkalisierung empfohlen

Überlebende nach Blitzschlag sollten zusätzlich zu oben genannten Punkten auch HNO- und augenärztlich untersucht werden. Dabei geht es um den Ausschluss von Trommelfellperforationen, Augenverletzungen oder Kataraktbildung. Bei Strommarken ist auch an eine Überprüfung und ggf. Auffrischung des Tetanusschutzes zu denken.


Zusammengefasst empfiehlt sich folgendes Vorgehen:

Eigensicherung (SSS - scene, safety, situation)

Erstversorgung nach cABCDE

Anamneseerhebung nach SAMPLE mit besonderem Augenmerk auf den Unfallmechanismus und die o.g. Besonderheiten bei Stromunfällen

Prüfung der ERC-Risikofaktoren (s.o.) in der Notaufnahme

IMMER 12-Kanal-EKG, ggf. Labor

Entlassung bei negativen ERC-Risikofaktoren, unauffälligem EKG & Wohlbefinden


Literatur:
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